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553Die Welt und Europa nach dem Kalten Krieg M2 Warum sind wir reich? Warum sind die anderen arm? Gerhard Drekonja-Kornat (geb. 1939), Professor für außereuropäische Geschichte, zieht 2002 Bilanz über Theorien zur Ungleichheit in der Welt: Die Frage, warum wir in den reifen Industriestaaten reich sind, während eine ganze Reihe von Gesellschaften in Afrika, Asien und Lateinamerika arm bleiben, kann jetzt nicht mehr mit der These von der imperialistischen Ausbeutung der Dritten Welt bequem beantwortet werden. Stattdessen ist vielschichtig zu argumentieren. […] Warum also sind wir reich? Vom lieben Gott kommt das „europäische Wunder“ bestimmt nicht […]: Seit rund eintausend Jahren war die jüdisch-christliche Denkweise, welche die westliche Zivilisation gebar, die treibende Kraft auf dem Kontinent, dank ihres geradlinigen Vorwärtsdenkens […], dem technische, institutionelle und geistige Errungenschaften entsprangen. […] Unterm Strich: Geografi e ist nützlich; Ressourcen helfen; jedoch entscheidend ins Gewicht fällt die Kulturökonomie einer Gesellschaft, die erzieht, ausbildet, Freiräume für Kritik gewährt, ein Minimum an Gleichheit garantiert und Bürokratie und Korruption unter Kontrolle hält. […] Zwischen 20 000 und 30 000 Dollar beträgt heute das Pro-Kopf-Einkommen in den reifen Industriestaaten, während die erfolgsarmen Teilstücke der Dritten Welt bei 4 000 und weniger dahindümpeln. Dritte-Welt-Staaten blieben arm, weil sie (Hypothek des Kolonialismus) Nachzügler waren, Bürgerkriege ausfochten, Caudillos1 und Diktatoren ausgeliefert blieben, der Korruption nie Herr wurden, kein unternehmerisches Bürgertum entwickelten, bei der Ausbildung versagten, die Gleichheit vergaßen, keine autonome Wissenskultur aufbauten. Daher konnten auch vier Dekaden mit Entwicklungshilfe nichts ausrichten, weil gute Gaben keine effi ziente Modernität herbeizaubern können. Erst die Eigenanstrengung bringt qualitative Sprünge. Solche Einsichten stechen besonders ins Auge, wenn man bedenkt, dass einige starke Leis tungen in der Dritten Welt nicht etwa mit Entwicklungshilfe, sondern ohne sie oder gar gegen den Widerstand aus den Metropolen gelangen, nämlich bei Raketentechnologie oder Atomrüstung, wie die Beispiele des Irak, Argentiniens und Brasiliens und neuerdings auch von Indien und Pakistan bezeugen: In diesen verbotenen Bereichen wurden Kräfte konzentriert, Wissen gebündelt, vorwärtsschauend gehandelt – und plötzlich sind Hochleistungen auch in der Dritten Welt möglich! […] Nach fünfhundert Jahren Modernitätsschöpfung, die auf Kosten der Peripherie geht, gibt es massiven Hass. Und erstmals Gegenschläge aus dem fundamentalistischen Islam. […] Jetzt wird die Entscheidung fällig: Entweder wir „Westler“ wehren uns entschieden, igeln uns ein […]; oder wir bemühen uns ernsthaft um European values und versuchen, im Rahmen ernsthafter postkolonialer Politik die besten Elemente unseres Erbes – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – allen zugänglich zu machen. Angesichts des grimmigen Hasses auf unsere säkulare Modernität mag es für die zweite Möglichkeit allerdings schon zu spät sein […]. Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1, 2002, S. 85 ff. 1. Auf dem G8-Gipfel vom Juni 2002 in Kanada wurde von den Regierungschefs der größten Industriestaaten ein „Aktionsplan für Afrika“ verabschiedet, der eine Ausweitung der Entwicklungshilfe und den Ausbau rechtstaatlicher Strukturen in den afrikanischen Staaten vorsieht. Afrikanische und Nicht-Regierungs-Organisationen kritisieren diesen Plan als „karitativen Symbolismus“. Informieren Sie sich über Einzelheiten dieses Plans und bewerten Sie die Maßnahmen auf dem Hintergrund von Drekonja-Kornats Ausführungen. 2. Erörtern Sie, welche politischen und ökonomischen Konsequenzen für eine Entwicklungspolitik aus M2 abgeleitet werden können. 1 Caudillo: spanischer Begriff für Diktator 5 10 15 20 25 30 35 40 i US-amerikanische Reklame an einer Bushaltestelle in Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam. Foto von Philip Jones Griffi ths, 2002. 45 50 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei g nt um d s C .C .B uc hn er V er la gs | |
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