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M1 Die Eroberung Konstantinopels – osmanische Sicht Derwisch Ahmed (um 1400 1484/1503) ist ein früher osmanischer Geschichtsschreiber. Er nimmt an mehreren Feldzügen teil und verfasst eine Chronik, in der er unter anderem die Eroberung Konstantinopels beschreibt: Man war schon seit Langem dabei, die Rüstungen für die Eroberung der Stadt selbst zu treffen. Sowie alles bereit war, kam auch der Sommer, und Sultan Mehmed sagte: „Heuer verbringe ich den Sommer zu Istanbul!“ Sie rückten hin und legten sich vor die Mauern von Istanbul. Vom Lande her und mit Schiffen vom Meere her schlossen sie es ringsum ein. Vierhundert Schiffe rückten auf dem Meere vor und siebzig Schiffe segelten oberhalb von Galata [Stadtteil Istanbuls] über das feste Land. Die Streitscharen standen bereit zum Kampf; sie ließen ihre Banner fl iegen und rückten heran. Am Fuße der Mauern stiegen sie ins Meer und schlugen eine Brücke über das Wasser. Fünfzig Tage wurde tags und nachts gekämpft, und am einundfünfzigsten Tag gab dann der Hundkar [Herrscher] die Stadt zur Plünderung frei. Die Gazi [Glaubenskrieger] stürmten, und am Dienstag wurde die Festung genommen. Da gab es gute Beute. Gold und Silber und Juwelen und kostbare Stoffe wurden auf den Markt im Heerlager gebracht und in Haufen aufgestapelt; all dies wurde nun feilgeboten. Die Giauren [Ungläubigen] von Istanbul wurden zu Sklaven gemacht, und die schönen Mädchen wurden von den Gazi in die Arme genommen [vergewaltigt]. […]. Am ersten Freitag nach der Eroberung wurden in der Aya Sofya [Hagia Sophia] das Gemeinschaftsgebet verrichtet und die islamische Freitagspredigt im Namen des Sultan Mehmed Gazi Han [Mehmed II.] gehalten, Sohn des Sultans Murad Han Gazi, der selbst wieder der Sohn war des Sultans Mehmed Gazi […]. Nachdem Sultan Mehmed Han Gazi Istanbul eingenommen hatte, übertrug er das Amt des Subas¸i [Heerführer, Truppenbefehlshaber im städtischen Raum] dortselbst seinem Knechte Süleyman Bey. Und in alle seine Länder sandte er Boten mit dem Aufruf: „Wer Lust hat, soll kommen und zu Istanbul Häuser, Weinberge und Gärten in Besitz nehmen!“ Und er beteiligte jeden, der da kam. Die Stadt war damit aber noch nicht wiederbevölkert. Nunmehr erließ der Großherr [Sultan] den Befehl, aus jedem Lande Familien herbeizuschaffen, arme wie reiche. […] Auch diesen wurden Häuser gegeben, und nunmehr begann sich die Stadt zu bevölkern. Zitiert nach: Richard F. Kreutel (Hrsg.), Vom Hirtenzelt zur Hohen Pforte. Frühzeit und Aufstieg des Osmanenreiches nach der Chronik „Denkwürdigkeiten und Zeitläufte des Hauses Osman“ vom Derwisch Ahmed, genannt As¸ik-Pas¸a-Sohn, Graz/Wien/Köln 1959, S. 198 200 5 10 15 20 25 30 35 1. Analysieren Sie, welche Rückschlüsse der Text von Ahmeds Chronik auf die Motive der Osmanen zur Eroberung Konstantinopels erlaubt. 2. Erörtern Sie, inwieweit in der Chronik die Religion als Eroberungsmotiv eine Rolle spielt. M2 Die Eroberung Konstantinopels – christliche Sicht In den Augen vieler christlicher Zeitgenossen ist die Eroberung Konstantinopels eine Katastrophe. Freilich ist man in Europa zuvor nur in geringem Maße bereit gewesen, die Verteidiger zu unterstützen. Unter dem Eindruck der Eroberung ruft Papst Niko laus V. 1453 in einer feierlichen Urkunde (Bulle) zum Kampf gegen die Osmanen auf: Einst lebte schon einmal ein unbarmherziger und grausamer Verfolger der christlichen Kirche: Mahomet [Mohammed], Sohn des Satans, Sohn des Verderbens, Sohn des Todes, der Seelen wie Körper der Christen mit seinem teufl ischen Vater verspeisen möchte […]. Dieser war der zu erwartende Drache, den Johannes in der Apokalypse gesehen hat: Jener rote große Drache mit sieben Häuptern, zehn Hörnern und sieben Kronen auf den Häuptern, dessen Schwanz ein Drittel der Sterne vom Himmel geholt und auf die Erde geworfen hat. Dieser Drache hatte bereits fast den ganzen Orient, Ägypten und Afrika besetzt […]. Nun hat sich in jüngster Zeit ein zweiter Mahomet [Mohammed = Mehmed II.] erhoben, welcher der Ruchlosigkeit des Ersten nacheifert, der christliches Blut vergießt und die Christen mit großem Feuer vernichtet. […] Dieser hat nun kürzlich die Stadt Konstantinopel nach hartem Kampf eingenommen und in seinen Machtbereich überführt. Dabei hat er unzählige Christen niedergemetzelt und alle Tempel und Heiligtümer geschändet. […] Dieser ist wahrlich der Vorbote des Antichrist […], der, vernunftlos und ohne Geist, den gesamten Westen unter seine Herrschaft bringen und aus dem gesamten Erdkreis den christlichen Namen auslöschen möchte, als ob er beanspruchen könnte, die Macht Gottes zu übertreffen. Zitiert nach: Helmut Weigel und Henny Grüneisen (Hrsg.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 5. Abteilung, 1. Hälfte (1453 1454), Göttingen 1969, S. 56 64, hier S. 60 1. Analysieren Sie, welche Gefahren dem Text zufolge von den Osmanen ausgehen. 2. Arbeiten Sie heraus, mit welchen Argumenten Papst Nikolaus V. den Kreuzzug gegen die Osmanen begründet. 3. Erörtern Sie, ob es gerechtfertigt ist, die Quellen M1 und M2 direkt miteinander zu vergleichen. Berücksichtigen Sie dabei die Quellengattungen und deren Intention. 5 10 15 20 67Das Osmanische Reich und „Europa“ in der Frühen Neuzeit Nu r z u Pr üf zw ec ke n E g nt u d C .C .B uc h r V rla gs | |
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