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75Osmanisches Reich und EU-Beitritt der Türkei 1 Konvention: Übereinkunft, allgemein anerkannte Regel 2 Vgl. S. 60 63. 3 Vgl. S. 51 f. Häme, mit der jetzt gegen den „christlichen Klub“ der EU polemisiert wird, ein Zeichen bestürzender Ignoranz, was 2 000-jährige Traditionen und die Tatsache angeht, dass die christlichen Konfessionen [...] in Europa noch immer große Mächte des öffentlichen und privaten Lebens sind. […] Warum sollte heutzutage ein muslimischer, von der fundamentalistischen Welle einer erkennbaren Mehrheit bedrohter Staat zu Europa hinzustoßen, das nun einmal durch seine völlig anderen Traditionen geprägt ist? In der Bundesrepublik werfen 32 000 in radikalen Organisationen vereinigte türkische Muslime bereits hinreichend Probleme auf. Das Konfl iktniveau im Innern würde unvermeidbar angehoben. Ist das Menetekel des 11. September schon vergessen? Hans-Ulrich Wehler, Das Türkenproblem. Der Westen braucht die Türkei – etwa als Frontstaat gegen den Irak. Aber in die EU darf das muslimische Land niemals, in: Die Zeit 38 (2002) M3 „Geschichte abwerfen, statt sie zu bewältigen“ Der deutsche Mittelalterhistoriker Michael Borgolte nimmt 2004 zur Bedeutung der Geschichte in den Debatten Stellung: An den Fällen der Türkei und Russlands lässt sich indessen zeigen, dass – wie immer die Entscheidungen fallen – die Frage der europäischen Ostgrenze nur politisch, nicht aber geografi sch oder historisch-kulturell gelöst werden kann. Nähme die EU beide Staaten auf, dann verlöre sie selbst das Anrecht auf ihren Namen und ihre Identität. Denn ein Europa, das bis zum Stillen Ozean reichte [...], würde jede Konvention1 über seine Grenzen nach Asien sprengen und der Rede von den Kontinenten ihren Sinn rauben. Würden Türken und Russen aber abgewiesen, dann bliebe die EU hinter dem historisch gewachsenen Europa zurück, sie gäbe einen Teil der europäischen Geschichte auf. […] Die Osmanen [...] verwirklichten mit der Eroberung des altchristlichen Byzanz,2 wovon ihre arabischen Glaubensbrüder vergeblich geträumt hatten, nämlich in die Tradition des Kaiserreiches einzutreten. Es war daraufhin vornehmlich die Idee des Reiches, also der Universalherrschaft, die die Sultane des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts ihre Heere weiter vorrücken und bis nach Wien führen ließ. Gewiss kam es unter den Osmanen, wie vorher schon unter anderen Dynastien in Spanien,3 zu gewaltsamen Konversionen, Vertreibungen und Ermordungen von Christen und auch von Juden; aber im Unterschied zu den Christen [...] kannte der Islam keinen allgemeinen Missionsbefehl und deshalb auch keine Missionskriege. Angehörige anderer Schriftreligionen, die die Muslime unterwarfen, konnten mit minderem Recht, aber auch unter dem Schutz von Privilegien weiter ihre Religion leben. So vollzog sich auf der Iberischen Halbinsel wie später im europäischen Südosten erst in Jahrhunderten eine weitgehende, niemals vollständige Islamisierung [...]. Der Verfall des Osmanischen Reiches [hat] im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert das Ende des Sultanats, nicht aber das Ende des Islam in Europa herbeigeführt. Abgesehen von der Republik Türkei mit einem Anteil von 99 Prozent, weisen auch Albanien (siebzig Prozent) und Bosnien-Herzegowina (vierzig Prozent) eine muslimische Majorität auf. […] Eine Sorge der EU, dass nicht nur die Türkei, sondern auch die ethnisch und religiös gemischten Staaten auf dem Balkan die Gemeinschaft paralysieren4 könnten, wäre gewiss nachvollziehbar. Aus historischer Perspektive ist aber auch diese Feststellung unvermeidlich: Bleibt die Türkei als stärkster muslimischer Staat Europas vor der Tür, dann würde das moderne, das säkularisierte Europa der Gegenwart „christlicher“, als es das „christliche Mittelalter“ jemals gewesen ist. Die Abweisung der Türkei oder gar der Muslime insgesamt durch westliche Intellektuelle scheint darauf hinauszulaufen, die manchmal unangenehmen Lasten einer gemeinsamen Geschichte abzuwerfen, statt sie zu bewältigen. In der Regel ist ein solcher Verdrängungsprozess, wie wir wissen, nicht erfolgreich, sondern er ist im Gegenteil gefährlich. […] Aufgabe der Geschichtswissenschaftler ist nicht Identitätsstiftung, sondern kritische Verarbeitung der Überlieferung. Auch wenn sie nicht zu Meinungsmachern werden wollen, können sie der Politik Material für ihre Entscheidung liefern. Michael Borgolte, Türkei ante portas. Osman, Osman, gib uns deine Legionen zurück, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 2. 2004, S. 39 1. Fassen Sie die Argumente Heinrich August Winklers (M1) und Hans-Ulrich Wehlers (M2) zusammen. 2. Erläutern Sie den Unterschied von Michael Borgoltes Argumentation (M3) gegenüber den beiden vorigen Autoren. 3. Erörtern Sie, ob die Geschichte der Frühen Neuzeit in der Debatte über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union eine Rolle spielen sollte. 4. Diskutieren Sie in Ihrer Lerngruppe, welche Rolle die Türkei zukünftig im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses spielen soll. Finden Sie weitere Pround Kontra-Argumente für einen Beitritt der Türkei zur EU. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 4 paralysieren (griech.): lähmen, erstarren 15 20 25 N r z u Pr üf zw ck e Ei ge nt um d s C .C .B uc hn er V rla gs | |
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