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91Die Entdeckung Amerikas – Kulturbegegnung oder Kulturzusammenstoß? auf die Bedürfnisse des europäischen Marktes und ihm zu Diensten. Im 16. Jahrhundert war der Wert der lateinamerikanischen Edelmetallexporte während langer Perioden viermal so hoch wie die Einfuhren, die vor allem aus Sklaven, Salz, Wein, Öl, Waffen, Tuchwaren und Luxusartikeln bestanden. Die Rohstoffe fl ossen den aufstrebenden europäischen Nationen zu, die sie anhäuften. Das war die vorrangige Mission, mit der die ersten Eroberer gekommen waren, wenn sie den aussterbenden Indios darüber hinaus auch die Bibel brachten, mit beinahe so viel Nachdruck wie die Peitsche. Die wirtschaftliche Organisation der spanischen Kolonien hing von jeher ganz vom Außenhandel ab und konzentrierte sich folglich auf den Exportsektor, der Einkünfte und Macht bündelte. […] Doch nicht aller Überschuss fl oss nach Europa ab. Die koloniale Ökonomie fi nanzierte auch die Verschwendungssucht der Händler, Mineneigentümer und Großgrundbesitzer, die sich den Nießnutz der Arbeit der Eingeborenen und Schwarzen unter dem eifersüchtigen, allmächtigen Blick der Krone und ihrer engsten Verbündeten, der Kirche, untereinander aufteilten. […] Die herrschenden Klassen hatten nicht das geringste Interesse, die Binnenwirtschaft zu diversifi zieren1 oder das technische und kulturelle Niveau der Bevölkerung anzuheben […]. […] Das Kapital, das nach Abzug des Löwenanteils, der in den primitiven Anhäufungsprozess des europäischen Kapitalismus strömte, in Amerika verblieb, förderte in diesen Regionen keinen zu Europa analogen Prozess, mit dem der Grundstein für eine industrielle Entwicklung gelegt worden wäre, sondern fl oss in den Bau großer Paläste und imposanter Kirchen, in Schmuck und Kleidung und Luxusgerätschaften, in die Unterhaltung einer großen Dienerschaft und verschwenderischer Feste. […] Die Indios erlitten und erleiden – und bringen damit das Drama ganz Lateinamerikas auf den Punkt – den Fluch ihrer eigenen Reichtümer. Als die goldenen Sandbänke des Río Bluefi elds in Nicaragua entdeckt wurden, verjagte man umgehend den an den Ufern siedelnden Stamm der Carcas, und so erging es allen Indios in den fruchtbaren Tälern und an Bodenschätzen reichen Landstrichen südlich des Río Bravo2. Die Massaker an den Eingeborenen, die mit Kolumbus begannen, nahmen nie ein Ende. Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar, Wuppertal 32012, S. 47 50 und 72 (Hervorhebungen im Original) M3 Keine Schwarz-Weiß-Malerei Der Historiker Reinhard Wendt wägt ab, welche Folgen die Eroberung der neuen Welt für die Ureinwohner hatte: Der Aufbau formeller Kolonialherrschaft wurde immer wieder von Widerstand begleitet. In den Kernzonen war er zwar nicht erfolgreich, doch das Schwarz-Weiß-Bild von den einheimischen Opfern, die der Willkür kolonialer Täter wehrlos ausgeliefert gewesen seien, lässt sich nicht aufrechterhalten. Manche Bevölkerungsgruppen entdeckten durchaus Vorteile in einer Kooperation mit den Europäern. Da die vorkoloniale Zeit keineswegs frei von Gewalt und Unterdrückung war, fanden Spanier und Portugiesen immer wieder Verbündete. Von den ökonomischen Möglichkeiten, die Kontakte mit dem Westen boten, profi tierten auch Einheimische. Für manche mag das Christentum plausiblere Antworten auf geistliche Probleme gegeben haben als vorkoloniale Glaubensvorstellungen. Westliches Wissen erwies sich nicht selten auch für einheimische Interessen als nützlich. [ ... ] Am anderen Ende der Skala ist das Aussterben amerikanischer Völker zu beklagen, die dem Zusammenstoß mit den Europäern nichts entgegenzusetzen hatten. Versklavung, Arbeitszwang, Ausbeutung in Bergwerken und landwirtschaftlichen Betrieben, der Zusammenbruch gesellschaftlicher und familiärer Strukturen, die eigene Machtlosigkeit und die der Götter, an die man geglaubt hatte – all das trug zur Vernichtung zahlreicher indianischer Ethnien1 bei. […] Bei aller Unmenschlichkeit, die man Konquistadoren, Grundbesitzern und Bergwerksbetreibern attestieren muss, lässt sich dieses massenhafte Sterben nicht allein auf Gewalt, Mord oder Krieg zurückführen, zumal die Spanier ein ökonomisch bestimmtes Interesse an der Arbeitskraft und nicht am Tod der Indianer hatten. Entscheidend für die demografi sche Katastrophe waren Krankheiten wie Pocken, Pest, Typhus, Malaria, Gelbfi eber, Grippe, Masern, Mumps oder Diphtherie, die Europäer und Afrikaner eingeschleppt hatten und gegen die das Immunsystem der Indianer wehrlos war. Reinhard Wendt, Seit 1492: Begegnung der Kulturen, in: Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit, Oldenbourg Geschichte Lehrbuch, München 2000, S. 69 86, hier S. 81 f. 1. Arbeiten Sie heraus, welche Argumente die Autoren anführen, die entweder die These einer „Kulturbegegnung“ oder die eines „Kulturzusammenstoßes“ stützen. 2. Zeigen Sie anschließend anhand von M1 bis M3 die Kontroverse mit ihren jeweiligen Begründungen auf. 3. Die Entdeckung Amerikas – Fluch oder Segen für den Kontinent und seine Bewohner? Nehmen Sie Stellung. 1 diversifi zieren: ein Unternehmen oder einen Konzern auf verschiedene Wirtschaftszweige umstellen, um von Entwicklungsschwankungen einzelner Branchen unabhängig zu werden 2 Río Bravo (auch Río Grande): Grenzfl uss zwischen Mexiko und den USA; südlich dieses Flusses beginnt Lateinamerika 1 Ethnien: Völker oder Völkerschaften (umgangssprachlich) 15 20 25 30 35 40 45 50 5 10 15 20 25 30Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um es C .C .B uc h r V rla gs | |
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