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37Umgang mit Texten und Medien Das seh’ ich anders Während einiger Wochen keine Vorfälle. Ich beobachtete ihn, zum Beispiel während des Essens. Früher hatte er viel erzählt. Jetzt aß er schweigend, schaute in den Teller. Einmal begann er plötzlich vor sich hin zu lachen und zwar auf eine Art, die mir nicht behagte. Ich betrachtete ihn stumm. Er wurde wieder ernst, schaute mir perplex ins Gesicht. Dann ließ er den Löffel in den Teller fallen, stand auf und ging hinaus. „Warum lacht er so merkwürdig?“, fragte ich Johanna. „Er ist in der Pubertät“, sagte sie. Ich sah die Unordnung in seinem Zimmer, Hefte und Bücher am Boden, Kleider und Schuhe in einer Ecke. Ich räumte auf. Unerwartet stand er in der Tür. „Was machst du?“, fragte er. „Ich mache Ordnung.“ Er stand da, schon zwei Zentimeter größer als ich, schlank, in Turnschuhen und Jeans. Er fragte: „Warum?“ „Einfach so“, sagte ich. „Damit die Unordnung nicht um sich greift.“ Ich setzte mich auf seine Couch. Er lehnte sich an die Wand, Hände in den Hosentaschen, Blick zum Fenster hinaus. Wir schwiegen. Dann stand ich auf, bat ihn, mit mir spazieren zu kommen. Er versuchte auszuweichen, doch ich gab nicht nach. Wir gingen in den Wald. Ich vermied es, von der Schule zu reden. […] Abends blieb er in seinem Zimmer. Hie und da etwas Musik, ziemlich verhalten. Er improvisierte. Später kam er in die Stube und las uns eine Stelle aus dem Steppenwolf1 vor, die ihm besonders gut gefiel. Befund des Berufsberaters: Intelligenz überdurchschnittlich, vielseitige Begabung, lebhafte Fantasie, starke musische Neigungen, jedoch leicht ablenkbar, unkonzentriert. Der Berufsberater empfahl einen praktischen Beruf. Im Frühjahr begann unser Sohn eine Lehre als Chemielaborant, die er nach vier Monaten abbrach. Ich hatte es fast vorausgesehen. Er mache das nicht mehr mit, sagte er, er habe genug von Gestank und giftigen Dämpfen, er wolle noch ein paar Jahre leben und atmen. Vorläufig blieb er zu Hause. Ich war erstaunt, dass er relativ selten ausging. Oft saß er tagelang in seinem Zimmer und las. Er hörte Musik, überspielte Platten auf Kassetten, dann ging er mit seinem Gerät in sein Zimmer und ließ es dort laufen: Beethovens Fünfte, Klavierkonzerte von Grieg und Tschaikowski. Einmal hörte ich stundenlang ein bestimmtes Andante, offenbar eine Melodie, die ihn nicht losließ. Als ich in sein Zimmer guckte, lag er auf der Couch, Hände unter dem Kopf, Blick zur Decke. Später, nach einer Stille, spielte er dieselben Tonfolgen auf dem Klavier, ganz verhalten. Manchmal ging er in den Wald, machte Wanderungen, allein. Beim Nachtessen war er dann sehr still, aber nicht unglücklich. Manchmal begann er plötzlich zu erzählen. […] Noch im Herbst des gleichen Jahres begann er mit dem Lehrerseminar. Diesmal hatten wir uns für ein Landinstitut entschlossen. An einem Sonntag brach20 25 30 35 40 45 50 55 2 1 Roman von Hermann Hesse ➝ Nu r z u Pr üf z ec ke n Ei en tu m d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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