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39Umgang mit Texten und Medien Das seh’ ich anders 85 90 95 100 ruhig, ohne Keiferei, während er zuhört, was ihm die Mutter von früher erzählt, von unserer Jugend und unserer Erziehung. Ich bin froh, dass ich Johanna reden lassen kann. Ihr nimmt er es auch nicht so übel. Zuletzt meint er: „Ja ja, damals schon. Aber wir leben heute. Du hast keine Ahnung von heute! Komm nicht immer mit früher. Jetzt herrscht ein anderes Wetter.“ „Wieso? Was für ein Wetter?“ „Ein anderes. Eine Art Tauwetter. Wir können nicht einfach aus uns herausspringen. Auch die Mädchen sind anders. Du kennst sie nicht …“ Dann meint er, es sei nicht nur seine Schuld, wenn er zu ihnen gehe oder sie zu ihm kommen. Während er mit ihnen tanzt, fragen sie ihn: „Kommst du mit mir ins Bett?“ Das sei heute nun einmal so, auch bei anständigen Mädchen aus gutem Hause. Arme Johanna. Sie fragt: „Und das nennst du Mädchen aus gutem Hause?“ Darauf Arno, ganz still: „Ich bin ja auch aus gutem Hause.Wir wohnen in einem Einfamilienhaus, das Erbe deiner reichen Eltern. Dein Vater war Kaufmann, du hast die Höhere Töchterschule besucht. Vater ist Pfarrer, mein älterer Bruder Gymnasiallehrer, meine Schwester gutverdienende Sekretärin. Lauter wohlgeratene Gotteskinder.“ „Hast du etwas dagegen?“ „Dass sie wohlgeraten sind? Nein, gar nicht. Soll jeder auf seine Art selig werden.“ Endlich fragt Johanna: „Und wer ist diese Frau?“ „Was für eine Frau?“ „Das weißt du doch – die Frau, die hier übernachtet hat.“ „Ach so!“, sagt er. „Das ist Maja.“ „Was für eine Maja?“ „Sie heißt so, ich kann nichts dafür. Sie ist ein Jahr älter als ich, bald zwanzig. Hie und da, wenn sie kein Geld hat, bedient sie in der Hufeisen-Bar.“ „Und ihre Eltern?“ „Die kenn’ ich nicht. Ich weiß nur, dass sie am Zürichsee wohnen und dass der Vater Wissenschaftler ist, Hochschuldozent oder so.“ Johanna ist ganz erstaunt. „Hochschuldozent?“, sagt sie. […] Ich versuche mich zu erinnern, wie der Streit begann: Es war Mittag, draußen ein tiefblauer Himmel, auffallend warm für Ende Oktober. Wahrscheinlich herrschte Föhn. Johanna klagte über Kopfweh und Herzbeschwerden. Als wir uns zu Tisch setzten, erschien Arno – unrasiert, bleich. Er kam grußlos herein, ließ sich vergrämt auf den Stuhl nieder, als wäre es eine Zumutung, sich mit uns an den Tisch zu setzen. Johanna und ich begannen zu essen, während er stumm vor sich hinstierte. „Hast du keinen Hunger?“, fragte Johanna. Er schwieg. Eine Weile aßen wir, ohne ein Wort zu wechseln. […] 4 100 105 110 115 120 125 130 135 ➝ Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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