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31 Wie geht es weiter? Ist die Adresse auf dem Kärtchen für Bertha die Eintrittskarte in ein neues Leben? Wie wird sie durch diese schlimmen Zeiten kommen, und kann die Deutsche Bertha als Berthe in Frankreich leben? wusste sie aber die Adresse auswendig. Aber es wäre ein schlechtes Zeichen gewesen. Schnell glitten die Hände in die Tasche des grauen Arbeitskleides. Gott sei Dank, der Empfehlungsbrief der Tante war noch da. Das war das Wichtigste! Sie bedankte sich herzlich und steckte die Karte wieder zum Brief. Die Frau musterte sie neugierig. […] „Schlimme Zeiten sind das.“ „Ganz schlimm“, bestätigte Bertha. „Wir haben halt den Krieg verloren.“ „Und unsereins hat ihn doppelt und dreifach verloren“, ergänzte die Frau bitter. „Mein Mann kann nicht mehr richtig sehen, das Gas, wissen Sie. Und jetzt kriegt er kaum etwas vom Staat. Und dafür hat er seinen Kopf hingehalten. Eine Schande ist das.“ Sie hatte etwas lauter gesprochen, und man konnte zustimmendes Gemurmel hören. Die Frau schien gewillt, ihr Schwätzchen mit Bertha fortzusetzen. „War von Ihrer Familie auch jemand im Krieg?“ „Mein Bruder“, antwortete Bertha einsilbig. Darüber wollte sie nicht so gern sprechen. Aber die Frau ließ nicht locker. „Und – wie geht’s ihm?“ „Ganz gut soweit. Ist unverletzt zurückgekommen.“ So ganz stimmte das nicht, dachte sie, äußerlich war wirklich nichts, aber es war trotzdem etwas passiert mit Georg. Doch das konnte sie nicht sagen. „Dann hat er Glück gehabt. Wo war er denn?“ „In Frankreich. Bei Verdun.“ „Da war es am schlimmsten.“ Wieder das Gewisper der Umstehenden, das wie ein Echo die letzten Worte zurückwarf: „… am schlimmsten …“ Eine aufgeregte Stimme rief dazwischen: „Die verfl uchten Franzmänner!“ „Halt’s Maul“, sagte ein älterer Mann, der einen Henkelkorb fest umklammert hielt, „das waren genauso arme Schweine wie wir.“ „Schon. Aber was hocken sie jetzt im Rheinland? Und unser Geld ist nichts mehr wert und wir haben nichts zu fressen.“ Für einen Augenblick war es still, vielleicht hatte das Wort „fressen“ den Menschen wieder ins Bewusstsein gerufen, warum sie hier standen. Prompt schob sich die Schlange ein kleines Stückchen nach vorn. Der Krieg war auf einmal vergessen, man wollte dem Brot näher kommen, dem ersehnten Brot, das war jetzt wichtiger. „Sie kommen aber nicht von hier?“, fragte die Frau nach einer Weile. Bertha blinzelte. Einige Schweißtropfen waren in ihre Augenwinkel gefl ossen, das brannte. Dennoch musste sie lächeln: „Hört man das immer noch?“ Die Frau sagte ausweichend: „Wie lange sind Sie denn schon hier?“ „Ungefähr anderthalb Jahre. Ich komme von der Alb, aus einem kleinen Dorf. Der Vater ist gestorben und … die Stiefmutter bewirtschaftet das Gütle.“ Die Frau lächelte pfi ffi g. „Da kann’s eng werden.“ Bertha schämte sich. Warum erzählte sie einer Wildfremden das alles? Vielleicht weil es guttat, wenn jemand zuhörte. Hier in der großen Stadt interessierte sich niemand für die Geschichten, an denen einer trug. Da zählten andere Dinge. So dachte wohl auch die Frau, denn sie fragte gleich nach: „Wo schaffen Sie denn hier?“ „Beim Bosch.“ „Da haben Sie’s gut erwischt.“ Berthas Hand glitt wieder in die Kleidertasche. Alles war noch da, das Papier knisterte schon ganz vertraut. Als ob’s Eintrittskarten wären, dachte sie, Eintrittskarten für etwas Neues in ihrem Leben. Aber das konnte sie nicht sagen, denn niemand würde es verstehen. Die Schlange schob sich wieder vorwärts. Die Frau fi el wieder in ein dumpfes Schweigen zurück, genauso wie die anderen. Je näher man dem Ziel kam, umso drängender war der eine Gedanke, der alle beherrschte: Hoffentlich bekomme ich ein Brot. Inge Barth-Grözinger: Geliebte Berthe. Thienemann Verlag, Stuttgart 2012 Gütle: Schwäbisch für „kleines Landgut“, „kleiner Bauernhof“ 30003_1_1_2015_008_059_kap01.indd 31 05.02.15 08:22 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er l gs | |
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